Niederorschel [Langenwerke AG, Junkers-Verlagerungsbetrieb]

Niederorschel, Langenwerke AG (Junkers)

Im Rahmen seiner Dezentralisierungspolitik genehmigte das RLM dem Dessauer Flugzeugkonzern Junkers am 5. April 1944, einen Teil seiner Produktion ins Obereichsfeld nach Niederorschel zu verlagern. Ein Schreiben des Baubevollmächtigten des Reichsministeriums Speer in der Rüstungsinspektion IX an den Worbiser Landrat vom 16. März 1944 über die Zuweisung von 65 t Zement für den Bau eines Löschwasserteiches in Erfüllung des Luftschutzprogramms legt nahe, dass die Verlagerung bereits vorab beschlossene Sache war. In Niederorschel übernahm Junkers einen Großteil des im Mai 1936 gegründeten Sperrholzwerkes Hermann Becher, das bis dahin Holztüren und Möbel-Furniere herstellte. Zur Belegschaft von Becher gehörten polnische, italienische und russische Zwangsarbeiter sowie englische Kriegsgefangene. Das Kriegsgefangenenlager, das auch als Straflager diente, lag in unmittelbarer Nachbarschaft der Holzfabrik und gehörte zum Stammlager IX C in Bad Sulza. Im März 1943 schickte das Kaliwerk Bismarckshall in Bischofferode einen seiner englischen Kriegsgefangenen dorthin zur „Besserung“.

Im April 1944 übernahm Junkers gegen ein vertraglich festgelegtes Nutzungsentgelt von 45.900 RM die beiden westlichen Werkshallen des Sperrholzwerkes und stellte auf einer Fläche von 5.500 qm Tragflächen und Fahrgestelle für das Focke-Wulf Jagdflugzeug FW 190 her. Im östlichen Werksgebäude führte Becher seine Produktion im beschränkten Umfang fort. Das seit dem Geschäftsjahr 1941/42 mit sinkenden Umsatzzahlen kämpfende Sperrholzwerk erhielt im Sommer 1944 von der Flugzeugindustrie einen Großauftrag über Furnierplatten, doch konnte Becher den Anforderungen nicht genügen. Mit der üblichen Geheimnistuerei trat der Niederorscheler Junkers-Verlagerungsbetrieb als „Langenwerke AG“ auf. Dort waren neben ausländischen Zwangsarbeitern auch Häftlinge eines eigens eingerichteten KZ-Außenkommandos tätig.

Ein erster Transport mit hundert politischen Häftlingen aus Buchenwald erfolgte am 4. September 1944; er erreichte Niederorschel am nächsten Tag und wurde vermutlich zum Aufbau des Lagers eingesetzt. Die Ankunft eines weiteren Transportes von zweihundert Gefangenen aus dem Weimarer Stammlager am 7. Oktober 1944 bestätigte der „Arbeitseinsatzführer“ des Flugzeugwerkes am Folgetag. Gleichwohl war der Bedarf nach weiteren KZ-Arbeitskräften in Niederorscheler Flugzeugwerk damit noch nicht gedeckt. Bis ins KZ Auschwitz schwärmten Vertreter der Langenwerke AG Mitte Oktober 1944 aus, um geeignete „Mitarbeiter“ zu selektieren.

Sie „warben“ erfolgreich mit besonders guten Lebens- und Arbeitsbedingungen. So dass Ende Oktober 1944 ein Transport mit 283 Häftlingen aus dem polnischen Vernichtungslager nach Niederorschel abging. Nach mehrtägiger Fahrt über Görlitz, Dresden, Leipzig, Halle, Sangerhausen und Nordhausen erreichten 282 noch lebende Häftlinge am 30. Oktober 1944 den Eichsfeldort Niederorschel. Erschossenen worden war der 37jährige Slowake Jakob Heimann. Ein weiterer Transport mit 150 Häftlingen kam am 14. Dezember 1944 aus Buchenwald; die Zahl der Lagerinsassen im Außenkommando erreichte damit ihren Höchststand von 693. Am 31. Januar 1945 war sie auf 674, am 14. Februar 670 und am 1. März auf nur noch 528 Häftlinge gesunken.

Das Werk in Niederorschel bildete mit den beiden Junkers-Verlagerungsbetrieben in den Kammgarnwerken und in der Buntweberei von Langensalza eine Produktionseinheit; für ihre zwangsarbeitenden Buchenwald-Häftlinge hatte die „Langenwerke AG“ im Jahr 1944 der SS 425.220,00 RM zu erstatten. Im Monat Dezember 1944 waren es 56.936,40 RM für die 206.575 im Niederorscheler Betrieb geleisteten Stunden Zwangsarbeit. Der Häftling Leo Kram, am 7. Oktober 1944 aus Buchenwald gekommen, benennt seine Tätigkeit im Werk: „In den Hallen auf dem Montageband waren ungefähr zehn Flügel von kleinen Kampfflugzeugen. Geführt durch deutsche Vorarbeiter, genannt ‚Meister‘, mussten wir an den Flugzeugteilen arbeiten, Aluminiumbleche zusammennieten und elektrische Motoren in die Flügel einbauen“. Das firmenbetriebene Häftlings-Außenlager hatte Junkers in Gebäuden der verdrängten Mechanischen Weberei der Vereinigten Textilfabriken AG eingerichtet. Im Websaal waren die üblichen dreistöckigen Pritschentürme aufgestellt. Das Lager und sein Appellplatz waren mit Stacheldraht abgezäunt, ein etwa 200 m langer Korridor – ebenfalls umzäunt – führte zu den Produktionshallen im Sperrholzwerk. Zum Lager gehörte ein vom französischen Arzt Charles Odic geleitetes Krankenrevier. Kommandoführer war der am 25. Januar 1891 in Flensburg geborene SS-Oberscharführer Hans Masorsky, der 20 bis 30 Wachmänner befehligte.

Im Vergleich zu Kommandos etwa im Stollenbau waren die Lebensbedingungen der Häftlinge in Niederorschel erträglicher. Die für Spezialtätigkeiten angelernten Arbeitskräfte waren nicht ohne Weiteres ersetzbar; von ihrem Überleben hing ganz wesentlich die Flugzeugproduktion ab. Gleichfalls begünstigend wirkte, dass das SS-Bewachungspersonal die Fabrik nur zu Zählappellen betreten durfte. Im Werk selbst beaufsichtigten deutsche Zivilarbeitskräfte die Häftlinge. Auch Einwohner Niederorschels und deutsche Arbeitskollegen unterstützten die Häftlinge hin und wieder. Sie steckten ihnen in unbeobachteten Momenten Essen zu oder schleusten gelegentlich Lebensmittel ins Lager.

„Auf dem Wege in den Wald versuchten wir, wenn uns ein anständiger Soldat bewachte, im Feld die zufällig nicht ausgehobenen Rüben zu finden und so den Hunger zu stillen. Einmal kam in den Wald eine unbekannte junge Frau, die uns einen Eimer voll gekochter Kartoffeln brachte“.

Wenngleich die äußeren Bedingungen nicht mit denen von Buchenwald oder Auschwitz vergleichbar waren und eine reelle Überlebenschance bestand, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in Niederorschel KZ-Bedingungen – geprägt durch Hunger, zwölfstündige Schwerstarbeit und Repressalien durch das SS-Personal – den Alltag bestimmten. Der Häftling Simcha Bunem Unsdorfer, als Neunzehnjähriger von Auschwitz in das Eichsfelder Außenkommando verlegt, verdeutlicht in seiner 1961 unter dem Titel „The yellow star“ in New York erschienenen Autobiographie den Unterschied: „Unser neues Lager war nur ein paar hundert Meter vom Bahnhof entfernt, und wir waren sehr froh, dass es nur ein sehr kleines Lager war, etwa einen halben Quadratkilometer groß, einschließlich zweier großer Fabrikgebäude und eines Appellplatzes. Natürlich waren auch hier die Beobachtungsposten entlang des hohen Drahtzaunes, aber wir bemerkten mit Befriedigung die Abwesenheit der entsetzlichen und beängstigenden roten Backsteingebäude des Krematoriums und der weißwandigen Gaskammern. Uns beschlich das Gefühl verdammter Menschen, die plötzlich von der Todeszelle in ein normales Gefängnis zurückgebracht wurden“. Zwei Monate vor Auflösung des Außenkommandos versteckte der Schlossermeister Johannes Drößler einige Häftlinge in seiner Scheune und versorgte sie mit Lebensmitteln. Kurz vor Evakuierung des Lagers nahmen Einwohner weitere Lagerinsassen „in Obhut“. Damit entrannen etwa 30 Häftlinge der SS-Gewalt.

In den acht Monaten seiner Existenz starben im Außenkommando Niederorschel 19 Gefangene an Flecktyphus, Diphtherie und Ruhr; sie wurden im Krematorium in Mühlhausen eingeäschert, die Urnen dort beigesetzt. 1947 wurde eine Urne in die Nekropole Natzweiler-Struthof umgebettet. Ab Januar 1945 war die Fabrik nicht mehr ausgelastet, und die Häftlinge wurden zu anderen Arbeiten in der Umgebung eingesetzt. „Im Jahre 1945 war die Arbeit in der Fabrikhalle nicht mehr regelmäßig“, erinnert sich der ehemalige Häftling Kurt Kotouc. „Die Tragflächen häuften sich neben der Fabrik; es war wahrscheinlich schon unmöglich, diese Teile zur weiteren Montage abzusenden. Damit verschlechterte sich aber auch unsere Situation. Wir mussten dann oft im Wald arbeiten, z. B. Baumwurzeln ausheben“. Anfang Februar 1945 stellte Junkers die Nachtschicht ein. Dies ermöglichte Lagerkommandant Masorsky, den möglicherweise in Ungnade gefallenen Lagerkapo Willy Franken mit der Argumentation, es fehle eine Einsatzmöglichkeit, nach Buchenwald los zu werden. Am 19. Januar 1945 wurden 50 Häftlinge aus Niederorschel nach Langenstein-Zwieberge (Halberstadt) verlegt und fortan beim Bau der unterirdischen Junkers-Fabrik „Malachit“ eingesetzt.

Am 18. Februar 1945 schob die SS weitere 135 überwiegend arbeitsunfähige Lagerinsassen nach dorthin ab; in den Zu- und Abgangslisten Buchenwalds wird der Transport unter dem 21. Februar 1945 registriert. Von diesen 135 Häftlingen, darunter viele ungarische Juden, wurden 85 in das Krankenrevier von Langenstein aufgenommen; mindestens 23 Insassen des Transportes verstarben. Ende März 1945, als die Amerikaner etwa 30 Kilometer vor dem Lager standen, erteilte der Lagerführer Befehl, das Kommando Niederorschel aufzugeben und die noch 527 Häftlinge in das Stammlager zurückzuführen.

Am 1. April 1945 gegen 21.00 Uhr stürmte eine Abteilung Wachmänner in die Baracken und jagte die Gefangenen auf den Appellplatz hinaus. Die restlichen Lebensmittelvorräte des Lagers wurden ausgegeben; jeder Häftling erhielt ein Stück Brot, etwas Zucker und Honig. Gegen Mitternacht begann der Todesmarsch Richtung Mühlhausen und Buchenwald, dauerte die ganze Nacht; erst am nächsten Morgen wurde eine größere Pause eingelegt. Vom 2. auf den 3. April bezog die Kolonne in einer Scheune Nachtlager, setzte den Marsch am nächsten Abend über Ebeleben, Greußen, Straußfurt und Sömmerda fort und hatte am 6. April das Ziel Buchenwald fast erreicht. In der Ziegelei Berlstedt wurde noch einmal genächtigt, ehe die letzten fünf Kilometer zurückgelegt werden sollten. In der Küche fanden die Häftlinge Kartoffeln, die sie sich kochten.

Anders als geplant blieb der Evakuierungstransport drei Tage in der Ziegelei, was vielen das Leben rettete. Am 10. April gegen 19.00 Uhr traten die Häftlinge aus dem Außenkommando „Langenwerke AG, Niederorschel“ die letzte Etappe an und erreichten am späten Abend das Konzentrationslager Buchenwald, das am folgenden Tag befreit wurde. Laut Zugangsliste kamen 425 der 527 in Niederorschel beschäftigten Häftlinge in Weimar an. Eine unbekannte Zahl der 102 fehlenden Häftlinge wurde auf dem Evakuierungsmarsch getötet, vielen dürfte aber auch die Flucht gelungen sein.

Nach Kriegsende musste sich lediglich der Kommandoführer des Außenkommandos Niederorschel, SS-Oberscharführer Hans Masorsky, für seine Taten verantworten. Er wurde 1947 nach Polen ausgeliefert und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Im 1971 von der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg gegen weitere SS-Aufseher eingeleitete Ermittlungsverfahren wegen der Ermordung von Häftlingen auf dem Evakuierungsmarsch konnte eine konkrete Tatbeteiligung nicht nachgewiesen werden, so dass das Verfahren am 30. März 1972 eingestellt wurde. Die Täter konnten sich schnell wieder in die Gesellschaft integrieren, teils auch öffentliche Ämter einnehmen, einer der SS-Aufseher des Außenkommandos Niederorschel zum Beispiel als Stadtoberinspektor in einer großen Stadt Niedersachsens.

Ende Januar 2002 eröffnete die Gemeinde Niederorschel unter Anwesenheit ehemaliger Lagerinsassen eine Dauerausstellung, die an das Schicksal der Häftlinge des dortigen Außenkommandos erinnert. Die Ausstellung ist von Montag bis Donnerstag in der Zeit von 8:00 Uhr – 12:00 Uhr und von 13:00 – 16:00 Uhr zu besichtigen.

Quelle:
Frank Baranowski, Rüstungsproduktion in Deutschlands Mitte von 1923 bis 1945, S. 409-416.

(c) Frank Baranowski 2016
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